Europas engster Verbündeter verbündet sich mit seinem größten Feind
Europas Führer stehen vor einem Rätsel. Warum hat sich der US-Präsident Donald Trump so plötzlich und entschieden gegen die Ukraine gewandt? Innerhalb weniger Tage brach die amerikanische Unterstützung für die Ukraine zusammen, und viele in Europa können es kaum fassen. Trump übernimmt die aggressive Desinformation, die sonst aus dem Kreml kommt, und stellt sich gegen den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj.
Die europäischen Staats- und Regierungschefs wurden von den Gesprächen zwischen den USA und Russland ausgeschlossen. Niemand in Europa weiß genau, wann Washington einen Friedensplan präsentieren wird oder ob die USA ihre Drohung wahr machen und sich aus dem Konflikt zurückziehen. Die plötzlichen Entwicklungen haben viele fassungslos gemacht. „Die Art und Weise, wie das geschah – Schlag auf Schlag innerhalb weniger Tage – war ein echter Schock“, erklärte Armida van Rij, eine leitende Forscherin beim Londoner Think Tank Chatham House.
Europäische Politiker durchlaufen eine Phase der Trauer. Ein hastig einberufener Gipfel in Paris brachte eine Reihe von neuen, harten Vorschlägen hervor, um die neue Realität zu gestalten. Doch trotz dieser hektischen Reaktionen bleiben viele Hauptstädte unentschlossen. Vorschläge wie eine Friedenstruppe, höhere Verteidigungsausgaben und neue Militärhilfe wurden eingebracht, aber nicht koordiniert. Während Europa noch orientierungslos nach einer Strategie sucht, stehen die USA und Russland einander plötzlich näher und wischen die Forderungen der Ukraine beiseite.
Einige Experten glauben, dass eine starke Führungspersönlichkeit helfen könnte. Eine solche Person könnte Europa hinter einer gemeinsamen Strategie versammeln und zwischen Kiew und Washington vermitteln. Großbritanniens Premierminister Keir Starmer und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron gelten als die aussichtsreichsten Kandidaten. Ihre bevorstehenden Besuche in Washington sind nun von besonderer Bedeutung.
Doch Europa ist nicht für seine Einigkeit in Verteidigungsfragen bekannt. Jeder große Führer hat innenpolitische und wirtschaftliche Probleme zu bewältigen. Hinzu kommt die schwierige Frage, wie und wann man Trump entgegentreten sollte. Zu scharfe Konfrontation könnte Moskau in die Hände spielen.
Truppen am Boden: Ein riskantes Manöver
Europa hatte erwartet, dass Trump weniger engagiert sein würde als die vorherige Biden-Regierung. Doch der abrupte und erbitterte Bruch war für viele schockierend. Ein amtierender US-Präsident, der die Schuld an einem Angriffskrieg dem angegriffenen Staat gibt, sorgte für einhellige Empörung in Europa. Auf emotionaler wie strategischer Ebene ist der Kontinent erschüttert.
Doch eigentlich hätte man gewarnt sein sollen. Monatelang hatten Trump und sein Umfeld spekuliert und angedeutet, dass sie wenig Interesse an Kiews Souveränität hätten. Die Zeichen für eine drastische Kehrtwende waren da.
Van Rij erklärte: „Europas Regierungschefs hätten sich direkt nach Trumps Wahlsieg treffen müssen, um eine Strategie zu entwickeln. Doch das ist nicht passiert.“ Nun reagiert Europa unter Zeitdruck.
Die Zukunft teilt sich in zwei Möglichkeiten: eine mit einem Friedensabkommen und eine ohne. Beide würden europäische Führungskraft erfordern. Die USA haben ihre Prioritäten klar auf den Indo-Pazifik und ihre eigenen Grenzen gelegt.
Großbritanniens Premierminister Starmer machte den ersten entscheidenden Schritt: Er kündigte an, dass britische Truppen bereit wären, eine Friedensvereinbarung in der Ukraine militärisch zu sichern. Westliche Beamte schätzten, dass eine solche Truppe weniger als 30.000 Soldaten umfassen würde. Ihr Hauptzweck wäre die Sicherung ukrainischer Infrastruktur und die Stärkung des Vertrauens in die Regierung.
Diese Initiative wird von Großbritannien und Frankreich angeführt. Paris hatte schon letztes Jahr Truppenentsendungen ins Gespräch gebracht, wurde aber von den Europäern zurückgewiesen. Doch nun steht fest, dass eine Unterstützung durch die USA entscheidend wäre. Die NATO würde voraussichtlich aus einem Nachbarland wie Polen oder Rumänien operieren. Starmer und Macron sollen Trump in Washington von diesen Plänen überzeugen.
Doch viele Fragen bleiben unbeantwortet. Was geschieht, wenn NATO-Soldaten in der Ukraine von Russland angegriffen werden? Welche Reaktion wäre angebracht? Starmer muss zudem ein angeschlagenes britisches Militär managen, das seit den Kriegen im Irak und Afghanistan verkleinert wurde. Ein britischer Abgeordneter warnte: „Die Armee leidet unter jahrzehntelangem Niedergang.“
Die Notwendigkeit von mehr Verteidigungsausgaben wird immer deutlicher. Großbritannien plant, seine Militärausgaben von 2,3 % des BIP auf 2,5 % zu erhöhen. Doch Experten mahnen, dass dies nicht ausreiche.
Europa im Zwiespalt
Der Einsatz von Truppen ist nicht unumstritten. Besonders Polen ist skeptisch. Als größte europäische NATO-Macht befürchtet es, dass eine solche Mission seine eigene Grenze gefährden könnte. Sollte sich eine kleinere europäische Führungsgruppe herausbilden, wird Polens Premierminister Donald Tusk sicherlich eine Rolle einfordern.
Deutschland steht vor besonders großen Herausforderungen. Eine anstehende Wahl könnte wochenlange Regierungsverhandlungen bedeuten. Der voraussichtliche Kanzler Friedrich Merz hat sich kürzlich für eine härtere Haltung gegenüber Russland ausgesprochen. Doch Deutschland gibt nur etwa 1,5 % seines BIP für Verteidigung aus.
Gleichzeitig bleibt die größte Unsicherheit, ob die Ukraine eine von den USA und Russland ausgehandelte Friedensvereinbarung überhaupt akzeptieren würde. Sollte Kiew sich widersetzen, wäre Europa entscheidend, um den Krieg fortzuführen.
Die amerikanischen Waffenlieferungen reichen vermutlich noch bis zum Sommer. „Biden hat vor der Amtsübernahme Trumps noch viel Material geliefert“, so ein westlicher Beamter. Doch ohne die USA würde Europa eine gewaltige Lücke füllen müssen.
Europa steht vor der bitteren Erkenntnis, dass es sich auf eine Sicherheitszukunft ohne die USA vorbereiten muss.