Der Anblick der Waffe, die in der Hose eines Mannes steckte, machte klar, dass es Zeit war zu gehen. Wir hatten mehrere Stunden in einem der berüchtigtsten Wohnviertel Frankreichs verbracht, um das Leben an der Frontlinie des eskalierenden Drogenkriegs zu verstehen.
Drogenhandel als Alltagsrealität
Das Viertel Les Moulins in Nizza ist für viele Touristen unsichtbar, doch für seine Bewohner prägt der Drogenhandel den Alltag. Die Siedlung wurde in den 1960er Jahren für Heimkehrer aus dem Algerienkrieg erbaut und zählt heute etwa 12.000 Einwohner. Trotz der Nähe zu Strand und Flughafen lebt hier kaum jemand in Wohlstand.
Die Journalistin Siam Spencer zog 2023 nach Les Moulins, ohne zu wissen, dass sie sich mitten in einem Brennpunkt des Drogenhandels niederließ. Schnell musste sie feststellen, dass dort täglich bis zu 20.000 Euro mit Drogen umgesetzt werden. Sie dokumentierte ihre Erlebnisse in ihrem Buch La Laverie (Die Wäscherei), benannt nach einem Gebäude, das einst ein zentraler Treffpunkt für Dealer war.
Nourrédine Debbari, der im Viertel aufgewachsen ist und eine Hilfsorganisation leitet, bestätigt das Ausmaß: „Schauen Sie sich um – es ist voller Dealer.“ Er erklärt, dass fünf große Drogenverkaufsstellen von rivalisierenden Banden kontrolliert werden, die monatlich rund 1,5 Millionen Euro verdienen. „Jeder hier lebt mit dem Drogenhandel. Es gibt keine Wahl.“
Gewalt eskaliert – und breitet sich aus
Die Menschen in Les Moulins haben sich an die brutale Realität gewöhnt: Rivalitäten zwischen Banden enden oft in Morden. 2020 besuchte der damalige Premierminister Jean Castex das Viertel, nachdem eine Serie von Schießereien das Gebiet erschütterte. Doch die Gewalt wird extremer. Im Juli 2023 starben sieben Familienmitglieder, darunter drei Kinder, bei einem Brandanschlag auf ihre Wohnung – offenbar eine Racheaktion gegen den Vater, der als Drogendealer im Gefängnis saß.
Innenminister Bruno Retailleau warnte, Frankreich drohe, sich in einen „mexikanischen Drogenstaat“ zu verwandeln. Die Festnahme von Mohamed Amra, auch „Die Fliege“ genannt, in Rumänien verdeutlicht die Macht der Kartelle. Amra war Frankreichs meistgesuchter Krimineller, nachdem er bei einem bewaffneten Überfall auf einen Polizeitransporter entflohen war.
Die französische Riviera ist ein lukrativer Markt für die Kartelle. 2023 wurden in der Region 350 Kilogramm Kokain beschlagnahmt – ein Rekordwert, der nur einen Bruchteil der tatsächlich gehandelten Mengen widerspiegelt. Laut Ermittlern kommen die Drogen oft per Auto oder Schnellboot aus Italien, Spanien und Marokko. In Marseille läuft der Großteil des Handels zusammen, bevor er sich über Toulon und Nizza verteilt.
Eine verlorene Jugend – aber auch Hoffnung
Die Banden rekrutieren zunehmend Minderjährige für den Straßenverkauf. „Es sind oft illegale Migrantenkinder“, sagt Rudy Manna von der Polizeigewerkschaft. „Für sie ist es ein Albtraumjob. Sie erleben Folter und brutale Gewalt.“
Viele Kinder aus Les Moulins sehen im Drogenhandel eine Chance, dem Armutskreislauf zu entkommen. Spencer erklärt: „Wenn du in Nizza lebst, aber deine Familie kaum Geld hat, und nur 15 Minuten entfernt steht das Negresco, eines der luxuriösesten Hotels Frankreichs – dann wächst die Wut.“
Doch es gibt auch Versuche, den Kreislauf zu durchbrechen. Abdel Akim Madi, 24, wuchs in Les Moulins auf und träumte davon, Comedian zu werden. Heute leitet er die Initiative Partage Ton Talent, die Jugendlichen Sport-, Theater- und Jobvermittlungskurse anbietet. Seine Organisation hat bereits über 600 junge Menschen erreicht.
Auch Robert Songhor von der Organisation Association Adam setzt sich für die Kinder des Viertels ein. „Nächste Woche fahren wir mit ihnen in die Berge zum Skifahren“, erzählt er. „Es geht darum, ihnen zu zeigen: Ihr seid nicht nur ‚Kinder aus der Siedlung‘ – ihr seid Bürger von Nizza.“